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Arbeitszeiterfassung: Der aktuelle Stand

 – Dr. Sebastian Maiß

Arbeitgeber müssen die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter mittels eines objektiven, zugänglichen und verlässlichen Systems erfassen. Dies hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits im Mai 2019 entschieden. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Entscheidung bislang nicht umgesetzt, so dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) über die Frage entscheiden musste, ob Arbeitgeber bereits jetzt verpflichtet sind, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter zu erfassen. Dies bejahte das höchste deutsche Arbeitsgericht und sorgt damit für Aufsehen (Beschluss vom 13.09.2022, BAG, 1 ABR 22/21).

Aber der Reihe nach. Die wegweisende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts kam über einen kleinen Umweg zustande. Es hatte kein Arbeitnehmer auf Erfassung seiner Arbeitszeit geklagt, sondern ein Betriebsrat sollte den Arbeitgeber verpflichten, eine elektronische Zeiterfassung einzurichten. Dies nennt sich im deutschen Betriebsverfassungsrecht Initiativrecht und wurde bezogen auf die Einrichtung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung bislang vom BAG abgelehnt. Das Bundesarbeitsgericht blieb bei seiner bisherigen Linie, dass Betriebsräte über dieses Initiativrecht keine Einführung einer Arbeitszeiterfassung in einer bestimmten Form verlangen können. Denn, und dies ist neu, Arbeitgeber seien bereits jetzt nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG dazu verpflichtet sind, Beginn und Ende und damit die Dauer der täglichen Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden zu erfassen. Der Betriebsrat hat ein Mitbestimmungsrecht nur, soweit es um die Ausgestaltung dieses durch den Arbeitgeber bereitzustellenden Arbeitszeiterfassungssystems geht.

Welche Arbeitszeiten sind zu erfassen?
Das Bundesarbeitsgericht liest die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit in die Generalklausel des ArbSchG (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG) und die daraus resultierende Organisationspflicht des Arbeitgebers zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. In diesem Rahmen räumt das BAG Arbeitgebern einen Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung des Systems zur Erfassung der Arbeitszeit ein. Arbeitgeber müssen daher prüfen, welche Gefährdungen für den Gesundheitsschutz ihrer Arbeitnehmer bestehen. Anhand dieses Ergebnisses sind die erforderlichen Maßnahmen zur Erfassung der Arbeitszeit zu treffen. Ein „one fits all“ Arbeitszeiterfassungssystem ist weder sinnvoll noch erforderlich. Denn Arbeitgeber können und müssen sich bei der Ausgestaltung dieses Systems auch an der Größe des Betriebs sowie der Tätigkeit der Arbeitnehmer orientieren.

Damit wären wir auch schon beim Kern des Problems: Was ist eigentlich Arbeitszeit und damit überhaupt zu erfassen? Bei Tätigkeiten mit messbaren Arbeiten wie beispielsweise dem In- und Outbound ist dies noch relativ einfach zu bestimmen. Die Arbeitszeit beginnt dann, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit fremdbestimmt für den Arbeitgeber aufnimmt, beispielsweise seine Telefonanlage einschaltet. Wie sieht es aber mit Arbeitszeit bei Wissensträgern aus, bei denen sich typischerweise Freizeit und Arbeit miteinander vermischen? Liegt eine zu erfassende Arbeitszeit bereits dann vor, wenn der Arbeitnehmer morgens unter der Dusche an seinen Vertriebstermin am nachmittag denkt und ihn unter der Brause strukturiert und vorbereitet? Muss er dies bereits als Arbeitszeit erfassen, dann eine Pause eintragen, wenn er frühstückt, die Zeitung liest und sich auf den Weg ins Büro macht?
Die Kernfrage, was eigentlich erfassungspflichtige Arbeitszeit ist, ist weiterhin offen. Versucht man eine grobe Abgrenzung, liegt eine aufzeichnungspflichtige Arbeitszeit vor, wenn der Arbeitnehmer seine Lebenszeit zugunsten des Arbeitgebers fremdbestimmt aufwendet, keine Arbeitszeit hingegen dann, wenn diese Zeit nur eigenen Bedürfnissen dient (etwa die Mittagspause). Grauflächen werden nicht zu vermeiden sein (wie der Smalltalk in der Küche mit Kollegen über private und dienstliche Themen), können aber durch betriebliche Regeln auskonturiert werden, zum Beispiel durch Festlegung eines Arbeitszeitrahmens sowie eines Zeitpunkts, ab dem die Arbeitszeit als fremdbestimmt zu erfassen ist. Ich empfehle bei der Dokumentation von Unterbrechungen der Arbeitszeit mit Ausnahme der gesetzlichen Pausenzeiten nicht zu kleinteilig zu werden. Alles andere führt zu einem nicht vertretbaren Organisationsaufwand und wird auch nicht die Akzeptanz der Mitarbeiter erreichen.

Das Bundesarbeitsgericht fordert darüber hinaus, dass auch Überstunden zu erfassen sind. Der EuGH hat hingegen „lediglich“ gefordert, dass die tägliche Arbeitszeit gemessen werden muss, nicht hingegen auch die Erfassung täglicher „Überstunden. Die Erfassung von Überstunden wird daher auch Auswirkungen auf die Vergütung haben. Arbeitgeber sollten daher ihre Arbeitszeitmodelle sowie die betrieblichen Regelungen zum Umgang mit Überstunden überprüfen und aktualisieren.

Wie ist die Arbeitszeit zu erfassen?
Erfreulich für Arbeitgeber ist, dass das Bundesarbeitsgericht ihnen viel Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung lässt. In Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH muss es sich um ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung handeln. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Vorgaben des EuGH ein wenig konkretisiert und erfreulicherweise klargestellt, dass keine bestimmte Form der Erfassung der Arbeitszeit erforderlich ist, diese insbesondere nicht elektronisch erfolgen muss. Die verstaubten Stechuhren können daher im Keller bleiben!

Die Erfassung der Arbeitszeit kann - je nach ausgeübter Tätigkeit und den daraus resultierenden Gefährdungen - auch in anderer Weise erfolgen, zum Beispiel händisch mit Stift und Papier. In der Praxis gibt es bereits eine Vielzahl app-basierter Lösungen, die mit einem einfachen Klick eine Erfassung der Arbeitszeit ermöglichen. Wichtig ist, dass sich Arbeitszeiterfassung nicht darauf beschränken darf, Beginn und Ende der Arbeitszeit sowie der Überstunden lediglich zu „erheben“. Die bloße Speicherung manuell eingegebener Daten genügt also nicht. Die Daten der Arbeitszeiterfassung müssen durch den Arbeitgeber erfasst und aufgezeichnet werden. Es reicht daher nicht aus, wenn Arbeitgeber den Mitarbeitern ein Arbeitszeiterfassungssystem zur freiwilligen Nutzung zur Verfügung stellen. Arbeitgeber müssen ihre Mitarbeiter daher anweisen, dieses System auch zu nutzen, diese Nutzung durch geeignete Maßnahmen kontrollieren und die erfasste Arbeitszeit dann auch aufzubewahren.

Können Mitarbeiter ihre Zeiten auch selbst erfassen?
Für Arbeitgeber stellt sich darüber hinaus die Frage, ob sie die Erfassung der Arbeitszeit auf die Arbeitnehmer zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung übertragen können. Die Antwort auf diese wichtige Frage lautet nach den nunmehr vorliegenden Entscheidungsgründen des BAG: „Ja“. Allerdings sind Arbeitgeber dann auch dazu verpflichtet, zu überwachen, ob ihre Arbeitnehmer ihre Zeiten auch tatsächlich selbst erfassen. Sie können sich durch eine Delegation der Arbeitszeiterfassung ihre eigenen Pflichten nicht vollständig "abstreifen".

Dies ist insbesondere für ortsungebundene Arbeitsmodelle von Relevanz, in denen Arbeitnehmer ihre Arbeitszeiten weitestgehend frei selbst steuern und dementsprechend auch erfassen. Für diese Tätigkeiten können Arbeitgeber daher passgenaue betriebliche Regeln schaffen, die einerseits den mit der Zeiterfassung intendierten Gesundheitsschutz berücksichtigen, andererseits aber auch die Interessen der Mitarbeiter und des Arbeitgebers, einfach handhabbare Lösungen zu schaffen.

Leidend oder leitend - das ist hier die Frage!
Offen geblieben ist nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, ob auch Führungskräfte ihre Arbeitszeiten erfassen müssen. Dies hat in der Praxis insoweit Relevanz, als dass für Führungskräfte häufig sehr flexible Arbeitszeitregelungen bestehen und der insoweit durch den Arbeitgeber erwartete zeitliche Mehreinsatz pauschal mit einer höheren Vergütung abgegolten ist. Würde man diese Mitarbeitergruppe nun ebenfalls in die Arbeitszeiterfassung einbeziehen, könnte dies umfangreiche Auswirkungen auf die Vergütung und auch das Arbeitszeitmodell haben.

Auf der anderen Seite sind viele Führungskräfte freiheitsliebend und fühlen sich häufig durch eine systematische Arbeitszeiterfassung beobachtet und ihren Freiheiten beschränkt. Nach den Entscheidungsgründen des Bundesarbeitsgerichts lässt sich jedenfalls festhalten, dass Geschäftsführer und Vorstände von der Arbeitszeiterfassung ausgeschlossen sind. Im Übrigen kommt es darauf an, wie man die Führungskraft definiert. Allein ein hohes Maß an Verantwortung und eine höhere Vergütung machen diese vielleicht zu einem leidenden, nicht aber einem leitenden Angestellten. Denn – wenn überhaupt – sind nur die „echt“ Leitende Angestellte i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG aus der Arbeitszeiterfassung ausgenommen. Dieser Personenkreis ist in Unternehmen aber ohnehin regelmäßig an einer Hand abzählbar. Denn es muss sich um Mitarbeiter handeln, denen beispielsweise Prokura erteilt wurde oder die zur selbstständigen Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern berechtigt sind. Selbst wenn man mit gut vertretbaren Gründen die Leitenden Angestellten i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG von der Arbeitszeiterfassung ausnimmt, sind diese nicht „schutzlos“ gestellt. Auch diesen Mitarbeiter gegenüber ist der Arbeitgeber zur Fürsorge verpflichtet und darf sie nicht grenzenlos tätig werden lassen.

Ist Vertrauensarbeitszeit zukünftig noch möglich?
Führungskräfte werden zudem häufig in Vertrauensarbeitszeit tätig. Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist aber klar, dass diese besondere Form eines Arbeitszeitmodells nicht tot ist. Unternehmen sollten sich aber ehrlicherweise die Frage stellen, was sie unter der Vertrauensarbeitszeit verstehen – denn gesetzlich definiert ist sie nicht. Versteht man diese in dem Sinne einer flexiblen durch die Mitarbeiter selbst gestalteten Lage der Arbeitszeit, wird dies auch zukünftig wie bisher möglich sein. Versteht man Vertrauensarbeitszeit im Sinne einer „sich wirtschaftlich selbst optimierenden Überstundenausbezahlungsvermeidungsstragie" ohne Kontrollpflichten zur Einhaltung von Beginn und Ende der Arbeitszeit, ist sie tot. Denn bereits nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG (Urt. v. 26.06.2019, 5 AZR 452/18) können auch in Vertrauensarbeitszeitmodellen Ansprüche der Mitarbeiter auf Vergütung der von ihnen geleisteten Überstunden entstehen. Mit einer verpflichten Arbeitszeiterfassung werden diese geleisteten Stunden nun transparent und sind – je nach arbeitsvertraglicher Ausgestaltung – dann auch zu vergüten oder in Freizeit auszugleichen.

Ist der Betriebsrat bei der Ausgestaltung der Arbeitszeit zu beteiligen?
Ja, der Betriebsrat hat (derzeit noch) ein Mitbestimmungsrecht bei der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung – er kann eben nur keine elektronische Arbeitszeiterfassung einfordern. Das BAG ist in den Entscheidungsgründen hart mit dem Gesetzgeber ins Gericht gegangen und hat diesen unmissverständlich dazu aufgefordert, endlich tätig zu werden. Dies wird (möglicherweise) dann auch irgendwann geschehen. Ob dann noch ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verbleibt, hängt von der gesetzlichen Ausgestaltung ab und ob dem Arbeitgeber noch einen Ausgestaltungsspielraum verbleibt. Falls sich Arbeitgeber dafür entscheiden, eine elektronische Zeiterfassung einzuführen, würde diese dann wiederum dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG unterliegen. Neben den mitbestimmungsrechtlichen Vorgaben sind bei jeglicher Form der Zeiterfassung dann auch die datenschutzrechtlichen Aspekte zu beachten.

Was droht bei Verstößen?
Verstöße gegen die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit sind im ArbZG derzeit gesetzlich nur sanktioniert, soweit Arbeitgeber ihrer Pflicht zur Erfassung der über acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeit nicht nachkommen. Ein solcher Verstoß kann in jedem Einzelfall mit einem Bußgeld von bis zu 1.600 Euro geahndet werden. Zukünftig könnten die Arbeitsschutzbehörden bei Verstößen gegen die weitergehenden Verpflichtungen zur Erfassung der Arbeitszeit aber Anordnungen treffen, den durch das BAG entwickelten Aufzeichnungspflichten nachzukommen. Weigern sich Arbeitgeber, können deutlich höhere Bußgelder folgen. Dies erscheint aber derzeit unwahrscheinlich. Arbeitgeber sollten ihr Augenmerk dennoch auf die Ausgestaltung ihrer Arbeitszeit- und Vergütungsmodelle richten. Denn eine gesetzliche Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung wird kommen – früher oder später. Und hierauf können und sollten sich Unternehmen vorbereiten. Jetzt.

Unser Gastautor:

Dr. Sebastian Maiß ist Fachanwalt für Arbeitsrecht in Düsseldorf. Er begleitet Unternehmen bei der Bewältigung ihrer arbeitsrechtlichen Herausforderungen von der Konzeptionierung bis zur Umsetzung einer rechtlich fundierten und zukunftsorientierten Lösung. Sein Beratungsansatz ist hands-on, mit vollem Engagement für seine Mandanten und immer einem Blick über den Tellerrand hinaus.

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