Interview: Führung im KI-Zeitalter heißt, Neugier vorzuleben

Über „Führung im KI-Zeitalter“ sprachen wir mit Verena Deller, Vorständin bei codecentric. Im Interview erklärt sie, warum Effizienz nicht allein von Technologie abhängt, weshalb Führungskräfte Kultur aktiv gestalten müssen und welche Schritte für Contact Center jetzt entscheidend sind.
CallCenterProfi: Frau Deller, viele Unternehmen setzen KI bereits ein, doch der erhoffte Produktivitätsschub bleibt oft aus. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Verena Deller: „Ihre Beobachtung trifft den Kern des Problems. Viele sehen KI als ein weiteres Tool, das man kauft und implementiert, und wundern sich dann, warum die ,Magie’ ausbleibt. Aber KI ist nicht einfach nur ein Werkzeug, es ist eine Verhaltensänderung. Diese Enttäuschung lässt sich sogar mit Zahlen belegen: Der aktuelle ,Voice of the Enterprise: AI & Machine Learning, Use Cases 2025‘ Report hat herausgefunden, dass der Anteil der Unternehmen, die einen großen Teil ihrer Pilotprojekte im Bereich GenAI aufgeben, von 17 Prozent im letzten Jahr auf dramatische 42 Prozent gestiegen ist. Der ausbleibende Produktivitätsschub liegt also nicht an der Technologie selbst, sondern daran, dass sie eingekauft, aber die Veränderung nicht gestaltet wird. Unternehmen scheitern oft, weil sie die wichtigste Frage nicht beantworten: Warum tun wir das? Es fehlt eine Vision, die über reine Effizienz hinausgeht. Produktivität entsteht nicht durch das Tool, sondern durch Menschen, die befähigt werden, es sinnvoll zu nutzen. Wenn die Basis - also eine anpassungsfähige, neugierige Kultur und klar definierte Ziele - nicht existiert, verpufft das Potenzial jeder noch so brillanten Technologie. Das ist Führungsaufgabe.“
CallCenterProfi: Welche Rolle spielt Führung, wenn es darum geht, eine Kultur der Offenheit und des Austauschs rund um KI zu etablieren?
Verena Deller: „Es ist die größte Führungsaufgabe unserer Zeit. Führungskräfte sind nicht mehr nur Manager, sie müssen zu dem werden, was ich den ‚KI-Navigator‘ nenne. Ihre Aufgabe ist es, dem Team nicht die schnellste Route vorzugeben, sondern ihm beizubringen, wie man die Karte liest, den Kompass bedient und auf unbekanntem Terrain sicher navigiert. Konkret bedeutet das:
Den Wandel von einer Wissens- zu einer Lernkultur vorantreiben. In der Vergangenheit zählte das Expertenwissen. Im KI-Zeitalter ist die wichtigste Fähigkeit das Lernen selbst. Führung muss einen Rahmen schaffen, in dem Neugier belohnt und Nicht-Wissen als Ausgangspunkt für Entdeckungen verstanden wird.
Psychologische Sicherheit garantieren. Das Experimentieren mit KI erfordert Mut. Mitarbeitende werden Fehler machen, Prompts werden ins Leere laufen, Ergebnisse werden unbrauchbar sein. Als KI-Navigator ist es meine Aufgabe, einen sicheren Hafen zu schaffen, in dem diese Versuche ohne Angst vor Sanktionen stattfinden können. Nur so entsteht echte Innovation.
Das ‚Warum‘ ins Zentrum stellen. Die Führungskraft muss die Vision vermitteln. Nicht ‚Wir führen jetzt KI ein‘, sondern ‚Wir wollen mithilfe von KI unsere Kundenberatung persönlicher und unsere Mitarbeitenden zufriedener machen‘. Diese Sinnstiftung ist der Motor, der die Veränderung antreibt und Ängste in Neugier verwandelt.“
CallCenterProfi: Was raten Sie Führungskräften konkret, um KI im Contact Center sinnvoll einzusetzen und Mitarbeitende mitzunehmen?
Verena Deller: „Vergessen Sie groß angelegte, komplexe Projekte aus dem Management. Mein Rat ist, die Transformation als eine gemeinsame Reise mit dem Team zu begreifen. Dafür gibt es drei entscheidende Schritte:
Beginnen Sie bei den Menschen, nicht bei der Technik. Fragen Sie Ihre Agentinnen und Agenten: ‚Was ist der nervigste, repetitivste Teil eures Jobs?‘ Wenn Sie dort ansetzen und eine KI-Lösung implementieren, die genau diesen Schmerzpunkt lindert - zum Beispiel durch die automatische Gesprächszusammenfassung oder das Erstellen von Follow-up-E-Mails - wird KI nicht als Bedrohung, sondern als willkommener Co-Pilot wahrgenommen.
Schlechte Erfahrungen ernst nehmen. Chatbots gibt es schon lange im Customer Service, die User Experience lässt aber häufig noch zu wünschen übrig. Man muss sich bewusst werden, dass sich das erst ändern wird, wenn wir Mensch und KI vertikal integrieren und auch Prozesse neu denken, als Kombination von Mensch und KI. Prozesse müssen KI-freundlich gestaltet werden, qualitative Daten gut auffindbar sein – nur bestehende Workflows mit KI anreichern reicht nicht.
Befähigen statt anweisen. Investieren Sie massiv in die Kompetenzentwicklung. Es geht nicht um einmalige Software-Schulungen, sondern um den Aufbau von ‚KI-Fitness‘. Schaffen Sie Lernformate, fördern Sie den Austausch im Team über Best Practices und geben Sie Ihren Mitarbeitenden die Zeit und die Freiheit, selbst zu Entdeckern zu werden. Machen Sie sie zu Mitgestaltern des Wandels.
Seien Sie das größte Vorbild. Als Führungskraft müssen Sie selbst die größte Neugier an den Tag legen. Probieren Sie die Tools selbst aus, teilen Sie Ihre eigenen Lernerfahrungen - auch Ihre Misserfolge. Wenn das Team sieht, dass Sie selbst auf dieser Lernreise sind, authentisch und offen, werden sie Ihnen folgen. Führung im KI-Zeitalter bedeutet, der erste zu sein, der zugibt, nicht alle Antworten zu kennen, aber begeistert davon ist, sie gemeinsam zu finden.“
Sie wollen mehr wissen?
Mehr lesen Sie hier (mit gültigen Zugangsdaten) in unserem Fachartikel "KI im Contact Center: Warum Führung und Kultur" oder hier im E-Paper unserer Fokus-Ausgabe III-2025.
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